Wiedersehen in TUNIX! - Eine Revision der Berliner Projektkultur
1. - 2. Dezember 2019 Hebbel am Ufer Berlin (HAU1)
https://radiocorax.de/wiedersehen-im-tunix-ein-rueckblick/
https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/pdetail/tunix-berliner-projektkultur/
Vom 27. – 29. Januar 1978 trafen sich an der TU Berlin alle denkbaren Interessengruppen der undogmatischen Linken – Spontis, Freaks und Theoriestars – zum legendären Tunix-Kongress. Rund 20.000 Teilnehmer*innen folgten nach den lähmenden Erfahrungen des Deutschen Herbstes der Einladung zu einem „Treffen all derer, denen es stinkt in diesem, unserem Lande“ gemäß der Parole „Wir hauen alle ab! Zum Strand von TUNIX!”. „Experimentiert ohne zu wissen wo ihr landet!” lautete eine Devise, „Bleibt nicht einsam, backt gemeinsam!” eine andere.
Der Titel TUNIX war freilich nicht Programm: In den drei Tagen fanden in einer Atmosphäre von Diskussion, Aktion und Party lebhafte Debatten statt, unter anderem zu alternativer Energiegewinnung, selbstverwalteten Jugendzentren, alternativen Bildungsmodellen, Feminismus, Ökologie, „neuer“ Theorie aus Frankreich, Überleben im Stadtteil und Meinungsfreiheit. Unter dem Motto „Rosa glänzt der Mond von TUNIX“ wurden Sketche und Diskussionen angekündigt: „Wenn du nicht nur'n Linker bist, sondern auch noch schwul oder auch umgekehrt“; es gab Arbeitsgruppen zur Staatspolitik „Erobern oder zerstören?“, zur Anti-Psychiatrie u. a. mit Michel Foucault, Peter Brückner, Félix Guattari, es ging um den „Aufbau eigener Nahrungsmittelketten, um linke Buchhandlungen oder um Kneipen –„Gegenöffentlichkeit oder Abfüllstation?“.
Das Treffen in Tunix war Katalysator und Nährboden für neue Projektformen. Der Begriff des Projekts stand dabei für Vernetzung, Beweglichkeit und alternative, selbstbestimmte Aktivitäten. Die damit verbundenen emanzipatorischen Reformansätze umfassten gleichermaßen Kritik an etablierten Institutionen, den Wunsch nach Befreiung aus engen politischen Spielräumen und den Aufbau von alternativen Infrastrukturen.
Als Plattform für alternative Konzepte hat das Tunix-Wochenende vor vierzig Jahren im damaligen West-Berlin und anderen Großstädten neben der Gründung der Tageszeitung taz unzählige selbstorganisierte Projektformen wie Wohnprojekte, Buchläden, Fahrradwerkstätten, Stadtteilzentren und Bürgerinitiativen angestoßen, Leute im facebooklosen Zeitalter miteinander vernetzt und prägt in dessen Folge die Berliner Stadtkultur bis heute.
Seit Ende der 1990er Jahre hat der Projektbegriff im Zuge diverser gesellschaftlicher Umstrukturierungen zusätzliche, neoliberale Konnotationen etwa als Synonym großer Bauvorhaben oder als betriebliche Organisationsform und Steuerungsprinzip erfahren. Die durchaus kritisch beobachtete gesellschaftliche Projektifizierung betont die wechselseitige Verschränkung der mitunter äußerst prekären Befristung und Flexibilität.
In einer neuen Phase des Spätkapitalismus ist das Projekt als Arbeits- und Organisationsform zum Leitbild geronnen und ambivalent: Das Projekt lässt institutionalisierte Kontinuitäten hinter sich und erfährt stattdessen prinzipiell kontingente, freilich äußerst prekäre Offenheit. So sind viele Projekte bis heute chronisch unterfinanziert; für freie Kultureinrichtungen, die sich mitunter dezidiert als Gegenmodelle zu den staatlichen Bildungs-, Kunst- und Kulturinstitutionen gegründet haben ist es gang und gäbe, ihre Finanzen aus unterschiedlichen Geldquellen zu akquirieren. Die Abhängigkeit von befristeten, projektbezogenen Förderungen ist enorm gestiegen und gehört zum Alltagsgeschäft. Wir leben heute in einer Welt der Projekte und flüssigen Strukturen mit all ihren Ambivalenzen.
Die zweitätige Veranstaltung im HAU 1 hat diese Ambivalenzen durch historische Bezüge und aktuelle Beiträge zur Sprache gebracht, dabei die vielfältigen Erinnerungen wie auch Kritikpunkte des Tunix-Treffens neu verhandet und den Projektbegriff hinterfrat. Das Veranstaltungsprogramm hat sich in dichter Abfolge von szenischen Lesungen, Diskussions- ,Vortrags-, Performance- und Musikformaten im gesamten Haus ausgebreitet.
Die Publikation (Verlag Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt), die als integraler Teil des Veranstaltungsprogramms mit dem Ticketkauf erworben wurde, dokumentiert die historische Ebene des Ereignisses anhand von Bildmaterialien sowie Faksimiles historischer Dokumente und beinhaltet Textbeiträge von Sabeth Buchmann und Stephan Geene, Birgit Eusterschulte, Christa Kamleithner, Felix Klopotek und Ulrich Bröckling, Jana König, Stefan König, Annette Maechtel, Sibylle Plogstedt, Michael Sontheimer, Sven Reichardt, Thomas Seibert, Julia Wigger und eine Fotostrecke von Stephanie Kloss.
Mit:
Lothar Baumgarte, Elisa Bertuzzo, Franziskus Claus Hans-Christian Dany, Nikola Duric, Annette Cornelia Eckert, Tashy Endres, Vera Gaserow, Stephan Geene, Konny Gellenbeck, Ulrich Gutmair, Ulrike Heiner, Dieter Hoffmann-Axthelm, Helmut Höge, Christa Kamleithner, Markus Krajewski, Felix Klopotek, Stefan König, Nina Kronjäger, Diethard Küster, Guillaume Paoli, Kathrin Peters, Eva Quistorp, Sven Reichardt, Cord Riechelmann, Angelika Sautter, Ines Schaber, Enrico Schönenberg, Thomas Seibert, Uwe Sonnenberg, Michael Sontheimer, Katja Steuer, Jörg Sundermeier, Christian Ströbele, Klaus Trappmann, Andy Wolff, Florian Wüst, sowie Berliner Stadtinitiativen.
Die zweitägige Veranstaltung wird in Kooperation mit dem HAU Hebbel am Ufer durchgeführt, die Publikation erscheint in Kooperation mit dem Verlag Berliner Hefte.
Das Projekt wurde ermöglicht durch die Mittel des Hauptstadtkulturfonds Berlin.