Ausgabe #2 Zwei Welten? TUNIX, Mescalero und die Folgen
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Es liest: Katja Steuer
Text und Regie: Heimo Lattner und Annette Maechtel
Vom 27. – 29. Januar 1978 versammelten sich an der Technischen Hochschule in Westberlin rund 20.000 “Spontis” zum TUNIX-Kongress. TUNIX war der Versuch einiger Initiativen von „Unorganisierten“, die noch zerstreute neue Generation nach der 68er-Bewegung zu versammeln, die sich vom Politikverständnis der maoistischen K-Gruppen und der DDR-orientierten Organisationen verabschiedet hatte. Nach der Depression des Deutschen Herbstes 1977 galt es, statt sich weiter in einer hoffnungslosen Konfrontation mit dem Staat zu verschleißen, Alternativen aufzubauen: Inseln des richtigen Lebens im falschen System.
”Uns langt's jetzt hier! - Der Winter ist uns zu trist, der Frühling zu verseucht und im Sommer ersticken wir hier. Uns stinkt schon lange der Mief aus den Amtsstuben, den Reaktoren und Fabriken, von den Stadtautobahnen. Die Maulkörbe schmecken uns nicht mehr und auch nicht mehr die plastikverschnürte Wurst. Das Bier ist uns zu schal und auch die spießige Moral. Wir woll'n nicht mehr immer dieselbe Arbeit tun, immer die gleichen Gesichter zieh'n. Sie haben uns genug kommandiert, die Gedanken kontrolliert, die Ideen, die Wohnung, die Pässe, die Fresse poliert. Wir lassen uns nicht mehr einmachen und kleinmachen und gleichmachen. - Wir hauen alle ab - zum Strand von Tunix." (Entwurf des “Aufrufs zur Reise nach Tunix, Stefan König)
Der Kongressaufruf wurde über linken Szeneblättern verbreitet, in Kneipenkollektiven und alternativen Fahrradläden ausgelegt. Der Buchladen am Berliner Savignyplatz stellte sein Telefon dem Koordinationsausschuss zur Verfügung, Wissenschaftssenator Peter Glotz (SPD), half bei der Beschaffung der Räume in der Technischen Universität und trat als Redner auf.
Auf dem Programm standen Debatte zu Feminismus und Ökologie, Modelle alternativer Energiegewinnung, unter dem Motto "Rosa glänzt der Mond von Tunix" wurden "Sketche und Diskussionen über das Problem" angekündigt: "Wenn du nicht nur 'n Linker bist, sondern auch noch schwul (oder auch umgekehrt)."
Wenig später fand der erste Christopher Street Day statt. Es gab Arbeitsgruppen zum Staat („Erobern oder zerstören?“), zu Anti-Psychiatrie (mit Michel Foucault, Peter Brückner, Felix Guattari) zu selbst verwalteten Jugendzentren (am Beispiel des Georg-von-Rauch-Hauses). Es ging um Food-Coops („Aufbau einer eigenen Nahrungsmittelkette“), um linke Buchhandlungen und Kneipen („Gegenöffentlichkeit oder Abfüllstation?“). Tunix war nicht das Signal, aus dem ungeliebten Staat BRD auszureisen, sondern sich darin seine eigene Welt zu schaffen.
Der Tunix-Kongress wurde zum strategischen Wendepunkt für die radikale Linke, zur Keimzelle der Autonomen- und Alternativbewegung in Berlin, zur Initialzündung für die selbstverwaltete Tageszeitung “taz” und für die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz AL, die 1993 im Bündnis90/DieGrünen aufging.
Quellen: Hoffmann-Axthelm, Kallscheuer, Knödler-Bunte: Zwei Kulturen? TUNIX, Mescalero und die Folgen. Ästhetik undKommunikation 1978
Brand, Brüsser, Rucht: Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue Bewegung in der Bundesepublik. Frankfurt am Main. 1983.
Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft: linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.
Michael Sontheimer: Auf zum Strand von Tunix!, Der Spiegel, 25.1. 2008
Mathias Bröckers: Gegenmodell Deutschland, TAZ, 25.1.2008
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